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Derhan: Das Ende des Weges

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14.05.24 08:54
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

Als der Heerzug der Berreshi die große Brücke über den Sheyshen hinter sich gelassen hatten, flog Derhan eine wohlige Empfindung an: er war auf dem Weg nach Hause. Klang nicht sogar der Schritt der Pferde über die Steine dieses Abschnittes der Taribischen Straße vertrauter, als über den auf der anderen Seite des Flusses?

Auch wenn es immer gutes Geld brachte, sich dem Truppenaufgebot anzuschließen, mit dem der Rat von Berresh die Kriegszüge des verbündeten Hannai unterstützte, reichten ihm die gewöhnlich sieben bis zehn Tage Knochenarbeit als Feldscher nun auch wieder. Und zuhause erwartete ihn nicht nur seine Frau, nach deren weichem Leib er sich seit dem frühen Aufbruch aus Taribai sehnte, sondern ein inzwischen siebenjähriger Sohn, der aufgeweckt und neugierig war und kurz vor Derhans Aufbruch das Schreiben gemeistert hatte. Mit Hilfe des Patrons würde sich sicher auch ein guter Lehrer für den Jungen finden lassen.

*

Endlich erreichte der Trupp den Musterungsplatz vor dem Westtor der Neuen Stadtmauer. Wie die anderen stieg Derhan von seinem Pferd und reihte sich an seinem Platz in der Feldscher-Wannim ein. Die meisten dieser zehn Mann waren wie ihr Wanack Chirurgi, dazu kamen zwei Männer, die gewöhnlich in einem Badehaus aushalfen, der Lehrling eines Chirurgus und Derhan selbst. Er kannte keinen anderen im Heiligtum des Ungenannten ausgebildeten Arzt, der bei den Truppen mitzog. Wenn sie denn einen Kriegszug begleiteten, fand man sie gewöhnlich bei der Priesterschaft. Allerdings kannte er außer sich selbst auch keinen im Tempel von Berresh ausgebildeten Arzt, der nicht zugleich auch Bürger der Stadt war. Durch sein Studium hatte er sich immerhin das Recht verdient, die weiße Kappe des Tempelgelehrten auf seinem kahlrasierten Schädel zu tragen. Natürlich trug er sie auch im Feld, denn er hatte die Erfahrung gemacht, daß die verletzten Offiziere dann viel großzügigere Trinkgelder für die Behandlung ihrer Blessuren springen ließen. Die tatsächliche Qualität seiner Behandlung schien eher nebensächlich zu sein, obwohl er damit sicher hinter kaum einem in der Einheit zurückstand. Und so kehrte er auch diesmal wieder mit einem erklecklichen Batzen Geldes heim, ein kleiner Ausgleich für die Tatsache, daß er als Mitwohner Berreshs für Behandlungen in der Stadt nur die Hälfte der Bezahlung verlangen konnte, die ein Bürger erhielt.

Die Schreiber prüften ihre Listen, dann folgte die Ausmusterung und der Anführer jeder Einheit erhielt das von Hannai zugesagte Geld, so daß Derhan von seinem Wanack zu seinen bisherigen Einnahmen noch achtzehn Tar für die neun Tage Kriegszug gegen Räuber in den Grasbergen erhielt, deren einziger Schatz ihre Pferde gewesen waren. Noch ein oder zwei Kriegszüge und er konnte sich endlich in die Bürgerschaft einkaufen.

Derhan stellte seine Stute wie immer bei dem Pferdehirten nahe des Westtores unter und trug seine Taschen dann zu Fuß in die Stadt. Trotz der schon vorgerückten Stunde war Derhans Schritt regelrecht beschwingt, als er den Weg nach Hause einschlug. Die Lampen an den Hauseingängen waren bereits entzündet, auch wenn es noch nicht einmal dämmerte, und so fühlte er sich willkommen geheißen, schon bevor er an die Tür seines eigenen Hauses geklopft hatte.

Es dauerte einen Moment, bis der Haussklave die Tür öffnete und dann seinen Herrn mit auffälliger Erleichterung begrüßte, als habe er vor der Tür einen Hausfremden vermutet. "Erwartet meine Gattin noch Besuch?" fragte Derhan daher.

Jamul schüttelte den Kopf. "Nein, Herr", dann griff er nach Derhans Gepäck: "Laßt mich das nehmen, Herr", und drehte sich schon um, um die Taschen in Derhans Räume zu bringen.

"Mach mir ein Bad", rief Derhan ihm nach, ging dann in den Innenhof, legte seine Waffen ab und begrüßte die seiner Frau so wichtigen Hausgötter in ihrem kleinen Schrein in der Ecke mit einem respektvollen Nicken. Doch wo war seine Familie? Konnte er nicht erwarten, daß zumindest seine Frau ihn begrüßte? Sie mußte doch Nachricht von der Rückkunft der Truppen erhalten haben.

Ah, da erreichte ihn der Duft gebratener Köstlichkeiten, nun hörte er auch Töpfeklappern und Frauenstimmen aus der Küche. Da steckte Lefiët wohl und ließ ein festliches Begrüßungsmahl für ihren Gatten bereiten. Beruhigt ging Derhan in sein Behandlungszimmer, entzündete die Lampe und hebelte dann die Türschwelle zu seinem Vorratsraum mit den Kräutern und Tinkturen auf, um zweiunddreißig glänzende Silbertar zu seinem Ersparten in den Tontopf zu legen, den er unter der Schwelle versteckt hatte. Es wärmte sein Herz zu sehen, wie voll dieser Topf inzwischen geworden war, er hatte sein Ziel wirklich bald erreicht. Wenn sich alles gut fügte, war Derhan Bürger von Berresh, bevor Dandar wirklich verstand, was genau den Unterschied zwischen einem solchen und einem bloßen Mitwohner der Stadt ausmachte.

Zufrieden legte Derhan die Türschwelle wieder zurück und trat sie fest, zog im ehelichen Schlafzimmer die Kleidung aus und begab sich in das daran anschließende kleine Bad, um sich für eine intimere Wiedersehensfeier als ein gemeinsames Nachtmahl mit seiner Frau bereit zu machen.

*

Frisch bekleidet wollte Derhan endlich seine Frau begrüßen. Doch in der Küche waren nur die Köchin und die Haussklavin. Die Herrin sei bei Dandar, den sie trösten müsse, erfuhr er. Also ging er, nach seinem Sohn zu sehen.

Lefiët saß auf der Bettkante und hielt mit der Linken noch die kleine Hand des inzwischen schlafenden Kindes, dessen weißes Haar sich auf dem Kissen lockte, die weißen Augenbrauen und Augenwimpern auf dem hübschen, dunklen Gesicht wie mit Kreide aufgemalt. Gerötet waren die Augenlider, Dandar hatte offensichtlich geweint. Und auf Lefiëts Schoß lag ein feines Leinentuch, das sie sonst in ihrem Ärmel trug und mit dem sie wohl die Tränen ihres Kindes getrocknet hatte. Sie selbst wirkte ebenfalls bedrückt, wahrscheinlich weil der Knabe sich nicht hatte trösten lassen.

Als Derhan einen Schritt näher an das Bett seines Sohnes herantrat und der hölzerne Fußboden knarrte, drehte Lefiët sich zu ihm um, dann lächelte sie ihren Gatten etwas zögerlich an. Doch bevor sie sich erhob, wandte sie sich noch einmal Dandar zu und küßte seine Stirn.

"Was...", fragte Derhan flüsternd, doch Lefiët schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen. Natürlich, nicht hier, damit der Junge nicht wieder geweckt und erneut von seinem Kummer bedrängt wurde. Und als sie das Zimmer verlassen und die Tür geschlossen hatten, war das Essen fertig.

Die nach Art des Westens bereiteten Speisen, die ihren vertrauten Wohlgeruch im Speisezimmer entfalteten, dieser überaus appetitliche Anblick direkt in Reichweite seiner Hände, erinnerten Derhan daran, daß er seit dem Frühstück bei Morgengrauen nichts mehr gegessen hatte, zudem hatte er während des Kriegszuges die heimische Küche vermisst. Lefiët stammte zwar aus Menrish, aber auch dort aß man wie bei den Stämmen und es war ihr gelungen, eine Frau aus ihrer Heimat als Köchin zu finden.

Da Lefiët den Appetit ihres Mannes offenbar nicht mit Dandars Kummer belasten wollte, schwieg sie während des Essens davon, sagte überhaupt kaum etwas, ebenso wie Derhan. Als jedoch der Tee gebracht wurde, erhob Derhan sich von seinem Platz und setzte sich auf das andere Speisesofa neben seine Frau, die schweigend an ihrer Teeschale nippte. "Was also hat Dandar für einen Kummer?" fragte er endlich, obwohl er sie lieber zu ihrem gemeinsamen Bett geführt hätte.

Lefiët hob den Blick nicht, als sie die Teeschale sinken ließ und begann: "Der Patron war heute mittag hier."

"Er wußte doch, daß ich erst mit dem Heer zurückkehren würde", warf Derhan ein.

"Ja, das wußte er wohl", bestätigte Lefiët. Die Schale zitterte in ihren Händen. Sie stellte sie ab und verschränkte die Finger auf ihrem Schoß. Doch sie fuhr nicht fort zu sprechen.

"Hatte er also einen Vorschlag, zu welchem Lehrer man Dandar geben könnte?" fragte Derhan wieder nach.

Doch Lefiët schüttelte den Kopf. "Nein, jedenfalls hat er nichts dazu gesagt." Sie verstummte wieder, ihre Finger verkrampften sich umeinander. "Derhan, wieso haben die Götter ihn nicht davor bewahrt? Er hat doch das Blut der Unirdischen in sich", schluchzte sie plötzlich, die Tränen flossen über ihre Wangen.

"Wovor bewahrt?" fragte Derhan verwirrt. Doch es war ihm auch eine gewisse Genugtuung, daß sie endlich einsah, daß die Götter sich nicht im Geringsten um Menschen mit angeblich unirdischem Blut kümmerten. So oft hatte sie ihm Gottlosigkeit vorgeworfen, wenn er seine Überzeugung zu diesem Thema geäußert hatte, denn kein Gott hatte den Tod seines eigenen Vaters verhindert als Derhan gerade geboren worden war, obwohl er angeblich so viel unirdisches Blut gehabt hatte, daß er Gedanken lesen konnte. Und kein Gott hatte Derhan in seiner Jugend davor bewahrt, verspottet und geschlagen zu werden, da er von seinem Vater nur die weißen Haare geerbt hatte, ansonsten jedoch nicht den Hauch irgendwelcher unirdischer Fähigkeiten.

Lefiët behauptete immer, das segensvolle Wirken der Götter für Derhan habe sich darin gezeigt, daß sie einander gefunden hatten, und eine Zeitlang hatte er es glauben wollen. Doch genauso gut konnte es reiner Zufall gewesen sein, denn in Menrish erwartete keiner von ihm Wunderdinge, und keiner sah ihn schief an, als er begann, sich nach Städtersitte den Schädel zu rasieren, um so das weiße Haupthaar zu verbergen, die Brauen und Wimpern immerhin waren bei ihm mit dem Heranwachsen dunkler geworden.

Derhan war kurz davor, eine spöttische Bemerkung zu machen, als er sah, wie sein Weib die Hände rang, die Finger der einen Hand mit denen der anderen endlich so fest umklammerte, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Wenn sie sich Dandars Kummer so sehr zu Herzen nahm, war es wohl mehr als eine kindliche Laune. Also nahm er sie statt dessen zärtlich in die Arme. "Was ist denn überhaupt passiert", wollte er wissen.

Lefiët blieb in seinen Armen steif wie ein Brett. "Er ist doch dein Patron", flüsterte sie. "Wie hätte ich ihm denn verweigern können... selbst wenn ich gewußt hätte..." Sie schluchzte plötzlich. "Aber... erst als... wie konnte er das nur tun?" Und nun vergrub sie ihr tränenüberströmtes Gesicht in den Händen.

Was sie da sagte, ergab keinen Sinn. Ratlos rückte Derhan noch näher, so daß sie doch endlich ihren Kopf an seine Brust legte, doch ihre Schultern zuckten im Rhythmus ihrer Schluchzer. Sie war seine Liebste, seine Gattin, die Mutter seines Sohnes. Sie war der Mensch, der ihm Halt gegeben hatte, als er, noch ein halbes Kind, aus den Zelten der Yoshany fortgelaufen war. Sie war die erste gewesen, die ihn akzeptiert hatte, wie er war; die ihren Vater überredet hatte, ihn aufzunehmen und zum Kräuterhändler auszubilden, obwohl er von den Stämmen kam. Und später hatte sie ihn ermutigt, in Berresh zu studieren und war ihm nach Abschluß dieses Studiums in die Fremde gefolgt, ohne zu zweifeln oder auch nur zu fragen. Was auch immer Furchtbares in seiner Abwesenheit geschehen war, allein für Lefiëts Beständigkeit ihm gegenüber mußte er versuchen, alles wieder gut zu machen. Also wollte er sie mit seinen Küssen trösten, doch seine Gattin drehte das Gesicht weg.

"Du verstehst es nicht", flüsterte sie unter Tränen. "ICH habe ihn zu Dandar gelassen. Ich bin fortgegangen, hab' unseren Sohn mit ihm allein gelassen. Er ist doch dein Patron..." So leise war sie geworden, daß er das letzte Wort mehr erschlossen als tatsächlich gehört hatte.

Was war nur für eine Ungeheuerlichkeit vorgefallen? Er umfaßte zärtlich Lefiëts Gesicht und drehte es sanft, so daß sie ihn ansehen mußte. "Geliebte, was genau ist geschehen?"

Doch Lefiët weinte nur und schüttelte den Kopf.

"Er hat Dandar etwas angetan", vermutete Derhan, und sie nickte. "Hat er ihn geschlagen?"

Aber nun schüttelte Lefiët wieder den Kopf. "Er hat Dandar... Gewalt angetan, hier in deinem Haus, unter deinem Dach", seufzte sie unglücklich.

Einen Moment glaubte Derhan nicht, was er da gerade gehört hatte. Dandar war ein kleines Kind! "Wie konnte er das wagen? Auch ein Patron kann sich nicht alles herausnehmen. Wir sind schließlich nicht seine Sklaven!" brach sich endlich der Zorn die Bahn.

"Als Mitwohner sind wir weniger als Sklaven", warf Lefiët nun mit leiser Stimme ein, "denn Sklaven gehören jemandem und bei einem Übergriff hätte er Schadenersatz leisten müssen. Du kennst doch die Gesetze hier. Unser einziger Schutz sind die Götter, doch wenn sie nicht helfen, ist für uns alle Hoffnung verloren."

Kein Oshey hätte gewagt, einem Kind so etwas anzutun. Natürlich, die Gesetze der Stämme galten hier nicht, doch es konnte nicht sein, daß sein Sohn in Berresh einem solchen Übergriff einfach ausgeliefert sein sollte, sie waren doch nicht irgendwo im wilden Osten, sondern in einer der ältesten Städte der zivilisierten Welt. Doch an wen konnte er sich um Hilfe gegen den Patron wenden?

Bei den Yoshany wäre der Fürst die höchste Autorität gewesen, im Heer hätte er zuerst den Zweiten seines Wanack ansprechen müssen. Hier in Berresh lag die Gerichtsbarkeit beim Rat der Stadt, doch dort konnte er als Mitwohner nicht selbst vorstellig werden, dafür brauchte er einen bürgerlichen Vertreter - eine Funktion, die für gewöhnlich der Patron des Mitwohners innehatte.

Dann fiel Derhan ein, daß - selbst wenn die Götter Dandar im Moment der Gefahr nicht geholfen hatten - der Hohepriester des Ungenannten doch nicht dulden würde, daß dem Sohn eines seiner Tempelgelehrten ungeahndet etwas zustieß. "Ich werde zum Hohepriester gehen, jetzt gleich", entschied er, trocknete mit dem Ärmel zärtlich Lefiëts Wangen und küßte sie auf den von ihren Tränen salzigen Mund. "Der wird uns helfen."

* * *

Natürlich war es schon längst dunkel und die ersten Sterne standen am Himmel, als Derhan die Alte Stadtmauer durchschritt und zur Prozessionsstraße eilte, die hinaufführte zur Oberstadt, wo neben dem Ratspalast der Tempel des Ungenannten stand. Die Tempelfront war übergossen vom orangenen Schein des Ewigen Feuers, doch nicht der Tempel war Derhans Ziel, denn außer der Handvoll Priester, die sich nachts um das Feuer kümmerten und für die wenigen nächtlichen Besucher die Gebete an den Gott sprachen, war dort zur Zeit niemand. Der Hohepriester des Ungenannten aber wohnte in einem vornehmen Haus direkt an der Prozessionsstraße, am oberen Ende des Aufstiegs zur Oberstadt.

Als er vor der Eingangstür stand, überlegte Derhan einen Moment, ob er zu so später Stunde noch beim Hohepriester vorstellig werden konnte oder sich durch die Störung aller Chancen beraubte, Gehör zu erhalten. Aber rechts und links der Tür brannten die Lampen, über dem Dach sah man Lichtschein aus dem Innenhof des Hauses, und Derhan hörte Stimmen und Lachen, anscheinend fand in diesem Haus noch ein geselliges Miteinander statt. Allerdings mochte das Eindringen eines Fremden in eine Gesellschaft als noch unangenehmer empfunden werden, als die eher private Störung kurz vor der Nachtruhe. Trotzdem faßte Derhan sich ein Herz und klopfte an die einladend beleuchtete Tür.

Ein vornehm gekleideter junger Mann öffnete. "Was wünscht ihr, Herr?" fragte er mit etwas blasiert klingender Stimme.

Derhan verneigte sich tief. "Ich bin Derhan aus Menrish und wurde vor einigen Jahren im hiesigen Tempel zum Arzt ausgebildet", stellte er sich vor. "Ich brauche die Hilfe eures Herrn."

Der junge Mann, der wohl nichts anderes als der Türwächter des Hohepriesters war, nickte und ließ Derhan ein, bat ihn jedoch, in dem großzügigen Vorhof direkt hinter der Eingangstür zu warten, während er in den Innenhof zu der Gesellschaft ging, wahrscheinlich um zu fragen, ob Derhan empfangen wurde. Es dauerte nicht lange, bis der Türwächter in Begleitung eines elegant gekleideten, schlanken Mannes in fortgeschrittenem Alter in den Vorhof zurück kam.

Erst auf den zweiten Blick erkannte Derhan den Hohepriester, den er bisher nur in seinen prachtvollen Tempelgewändern gesehen hatte. In seinem Haus waren die dem Gottesdienst vorbehaltenen Kleidungsstücke sicher unangebracht, aber er trug nicht einmal eine weiße Gelehrtenkappe. Seine bodenlange Tunika und das bei den Männern der adligen Familien übliche, locker über eine Schulter und die Hüfte geschlungene Tuch waren allerdings aus sehr feinem, in verschiedenen Farben schimmerndem Stoff, so daß seine Privatkleidung kaum der Pracht der Tempelgewänder nachstand.

Auch wenn Derhan nicht an die Fürsorge der Götter glaubte, erwies er doch dem offiziellen Vertreter der Institution, der er seine Ausbildung zum Arzt verdankte, den schuldigen Respekt, indem er sich nun ehrerbietig verbeugte. "Euer Eminenz, bitte entschuldigt die Störung", beeilte er sich zu versichern, "aber ich brauche eure Hilfe."

Der Hohepriester nickte und wedelte vor Derhans Nase kurz mit der Hand, anscheinend ein Zeichen für ihn, daß er sich aus seiner Verbeugung erheben sollte. "Wir feiern gerade die Amtseinsetzung des neuen Hohepriesters in Hannai", erklärte der Hohepriester von Berresh, "aber die Herren werden sich auch eine Weile ohne mich unterhalten können." Und er geleitete Derhan in einen kleinen Raum, dessen Wände hinter büchergefüllten Schränken verborgen waren. "Setz dich, mein Sohn", bot er Derhan einen Platz auf einem der unbequem aussehenden Holzstühle an. "Wofür brauchst du meine Hilfe?"

Derhan mußte sich einen Moment sammeln, bevor er das Geschehen in seinem Hause ruhig darlegen konnte: "Ich bin hier in Berresh nur Mitwohner, wie ihr wißt. Während meiner Abwesenheit besuchte mein Patron mein Haus, brachte meine Gattin dazu, ihn zu unserem siebenjährigen Sohn zu lassen, und hat diesen dann in meinem Haus vergewaltigt."

Der Hohepriester zog die Augenbrauen hoch. "Dein Patron ist doch nicht ebenfalls ein Tempelgelehrter, oder?" fragte er dann.

Derhan schüttelte den Kopf. "Es ist...", aber der Hohepriester winkte ab. "Wenn kein Angehöriger des Tempels direkt daran beteiligt ist, denke ich, daß es eher ein Fall für die weltliche Gerichtsbarkeit ist. Dafür brauchst du natürlich einen Vertreter vor Gericht, denn dein Patron kommt dafür selbstverständlich nicht in Frage. Aber ich glaube, darin kann ich dir wirklich helfen, denn wie es der Zufall will, gehört zu meinen Gästen heute abend auch Manord Havatim, der einen Narren an den Oshey und euch anderen Leuten aus dem Westen gefressen hat. Er wird dir sicher helfen." Der Hohepriester stand auf und winkte durch die noch offene Tür einen der Sklaven aus dem Innenhof zu sich. "Geh' und hol' mir Manord Havatim, mein Junge."

Der Sklave nickte und lief durch den Innenhof in das Speisezimmer.

"Versteh' mich nicht falsch, Derhan. Wenn es um einen Frevel gegen die Götter ginge oder gar dämonische Umtriebe, würde ich selbst vor der Herabrufung des Ungenannten nicht zurückschrecken, um dir zu helfen. Aber hier in Berresh sind das göttliche und das weltliche Gesetz - und auch seine Durchsetzung - seit langer Zeit streng getrennt. Das bestehende Gleichgewicht zwischen dem Rat und dem Tempel ist zu kostbar, um es eines einzelnen Vorfalles wegen aufs Spiel zu setzen, weil der Vater eines mißhandelten Kindes nun zufällig Tempelgelehrter ist. Aber Manord Havatim wird dir helfen, er ist ein kluger und rechtschaffener Mann, der mein volles Vertrauen genießt. Bräuchte ich einen Vertreter vor dem Gericht des Rates wäre er meine erste Wahl."

Derhan nickte ergeben, denn was sollte er sonst tun, als diese einzige Aussicht auf Hilfe anzunehmen.

"Und was die Gerichtskosten betrifft, so mach dir keine Sorgen, die werde ich aus meinem privaten Vermögen tragen", fügte der Hohepriester dann noch mit einem freundlichen Tätscheln auf Derhans Knie hinzu, "soviel immerhin kann ich für einen Tempelgelehrten tun, ohne einer ungebührlichen Einmischung in Angelegenheiten des Rates verdächtigt zu werden."

Das war mehr als freundlich, aber auch diese Zusicherung sorgte bei Derhan nicht für die Erleichterung, die er sich von einer Hilfszusage des Hohepriesters erhofft hatte. Doch das Gespräch mit Manord Havatim, der seinem Namen nach zu einem der mächtigsten Adelshäuser der Stadt gehörte, mochte seinen Besuch hier noch zum Positiven wenden.

Und da führte der Sklave auch schon einen beim Gehen über seinen Stock gebeugten, untersetzten alten Mann durch den Innenhof, ein weiterer Sklave, der einen gepolsterten Stuhl trug, folgte den beiden.

"Mein lieber Freund, dies ist Derhan aus Menrish, ein Mitwohner Berreshs, der in unserem Tempel zum Arzt ausgebildet wurde", stellte der Hohepriester Derhan vor und erläuterte kurz dessen Problem, während der alte Adlige, der bis auf einen schmalen, stark ergrauten Haarkranz so kahl war wie Derhan, für den gepolsterten Stuhl einen Platz anwies. Manord Havatim ließ sich schließlich steifbeinig auf der mitgebrachten Sitzgelegenheit nieder. Angesichts seiner Bewegungen und einiger verkrümmter Finger plagte ihn offensichtlich die Gicht.

"Seid ihr wegen eurer Gicht in Behandlung, Herr?" erkundigte Derhan sich besorgt, nachdem er sich ehrerbietig verbeugt hatte.

"Ah, ein wahrer Arzt, immer um leidende Menschen besorgt", warf der Hohepriester mit einem freundlichen Lächeln ein, während Manord Havatim Derhan mit einem kritischen Blick musterte. "Was, wenn ich nicht in Behandlung wäre?" fragte er zurück.

"Ihr scheint einen akuten Anfall zu haben. Also würde ich euch einen schwachen Tee vom Grün der Herbstzeitlose empfehlen, um eure Schmerzen zu lindern, Herr", gab Derhan zurück.

Nun umspielte auch Manord Havatims Lippen ein Lächeln und er nickte. "Das tat auch mein Arzt. Nun gut, ich bin bereit, euch vor dem Gericht des Rates zu vertreten, wenn ihr nicht gerade einen Freund von mir verklagen wollt. Wer also ist euer Patron, junger Mann?"

"Das ist Oseram Kasiterim", gab Derhan zur Auskunft.

Und nun erhellte sich das ganze Gesicht des alten Mannes. "Welch glückliche Fügung!" rief er aus. "Nicht nur kein Freund sondern der Sohn eines meiner... Feinde könnte man sagen. Sorfan, du kannst mich mit dem Mann allein lassen, wir werden uns schon einig. Aber vielleicht läßt du mir noch ein paar von diesen köstlichen Früchten aus dem Süden bringen, und eine Kanne von dem Oinos, den du mir versprochen hattest."

Der Hohepriester nickte, winkte die Sklaven hinaus, dann verabschiedete er sich und schloß die Tür.

"Oseram hat also euren Sohn vergewaltigt", vergewisserte sich der alte Mann noch einmal.

Derhan nickte nur, da er es nicht über sich brachte, die Tat noch einmal in Worten zu bestätigen.

"Nun, dann werden wir die Anklage auf der Nähe Oserams zu den Ostlern und dem damit einhergehenden, allgemeinen Sittenverfall in der Stadt aufbauen. Wenn wir Erfolg haben, wird sein Vater es schwer haben, in seinem Stadtteil für die anstehende Wahl zum Ratsherren aufgestellt zu werden." Manord Havatim lachte bösartig und rieb sich zufrieden die Hände. "Es wird ihn politisch vernichten." Dann strich er nachdenklich über seinen fast weißen Kinnbart. "Natürlich ist euer Sohn nicht der Sohn eines Bürgers, aber ihr seid anscheinend ein fähiger Arzt. Ich meine mich auch zu erinnern, daß einer meiner Enkel von euch erzählt hat. Habt ihr vor zwei Jahren einmal einen Kriegszug als Arzt begleitet?"

Derhan nickte. "Ich war in den vergangenen vierzehn Jahren jedes Jahr dabei, in der Wannim der Feldscher."

"Natürlich, ihr seid ja kein Bürger. Wie lange wohnt ihr schon in Berresh?"

"Mein Studium hier begann ich vor fast siebzehn Jahren. Seit zehn Jahren bin ich in Berresh als Arzt tätig."

"Und ihr spart, um euch in die Bürgerschaft einzukaufen, nehme ich an?"

Derhan nickte. "In spätestens zwei Jahren werde ich es mir leisten können."

"Klug, strebsam, Berresh ein guter Diener und auf dem Wege ein guter Bürger zu werden, das hilft uns sehr. Und euer Sohn, ist er vielleicht auch schon ein guter Schüler eines berühmten Lehrers?"

Derhan schüttelte den Kopf. "Er ist sieben Jahre alt und hat vor kurzem das Schreiben gemeistert. Meine Frau und ich haben ihn bisher unterrichtet, aber er soll bald eine gute Schule besuchen."

"Erzähl mir noch etwas. Ist er schon in den Übungshöfen zu finden? Oder will er ein Arzt werden, wie sein Vater?"

Derhan hatte das Gefühl, daß sein Gehirn wie leergefegt war, aber dann fiel ihm ein: "Er hat unirdisches Blut, seine weißen Haare zeugen davon."

Doch nun sanken die zuvor so erfreut hochgezogenen Mundwinkel des alten Adligen herab. "Das sollten wir gar nicht erwähnen. Schon schlimm genug, wenn er weißes Haar hat und der Verteidiger selbst auf die Idee kommen könnte, das zu verwenden. Ganz schnell sind wir da bei dämonischem Zauber, den der Junge gewebt haben soll, um einen ehrenwerten Bürger, nämlich deinen Patron, zu verführen. Damit tun wir unserer Sache keinen Gefallen, denn dann muß das Tempelgericht tätig werden und prüfen, ob es tatsächlich unirdisches oder vielleicht doch eher dämonisches Blut ist, das in seinen Adern fließt. Und ihr wißt selbst, daß die Priester des Ungenannten bei Dämonen keinen Spaß verstehen. Wenn nur der Hauch eines Zweifels an eurer Aussage besteht, seht ihr euren Sohn nach der Prüfung im Tempel nicht wieder. Und eure Einbürgerung könnt ihr dann auch vergessen."

"Aber er ist ganz sicher unirdischen Blutes", betonte Derhan, der seine Familienehre verletzt sah. "Mein Vater hatte schon die weißen Haare und konnte Gedanken lesen."

Manord Havatim schüttelte traurig den Kopf. "Ihr müßt diese westliche Einstellung vergessen, wir sind hier in Berresh. Im Zweifel ist es dämonisches Blut, das diese weißen Haare hervorruft. Weiß denn euer Vater, wie es in die Familie kam?"

"Mein Vater ist tot, schon seit Jahrzehnten. Er starb kurz nach meiner Geburt."

Der Alte hob abwehrend die knotigen Hände. "Auch das noch! Schweigt von der ganzen Sache, sonst seid ihr der Dämon und habt ein dämonisches Kind - und euren ehrenwerten Vater machen sie zu einer Leiche, die von einem Erzdämon besessen war, als er euch zeugte. Kommt zu eurer mangelnden Zeugnisfähigkeit als Mitwohner auch noch eine Nachforschung des Tempels, haben wir gar keine Möglichkeit, die Anklage durchzubringen."

Derhan wußte, daß den Priestern des Ungenannten der Eid abgenommen wurde, dämonisches Treiben zu unterbinden wo immer sie es vermuteten, ebenso wie den Ärzten der Eid abgenommen wurde, mit ihrem Wissen keinem Menschen zu schaden. Doch wie die Ärzte geschult wurden, auch ähnliche Krankheitsbilder sicher voneinander unterscheiden zu können, waren doch auch die Priester gewiß dazu in der Lage, die Abkömmlinge der Kinder ihres Gottes von den Erzfeinden eben dieses Gottes zu unterscheiden. Der Hohepriester vertraute dem Urteil dieses gichtigen alten Mannes, also sollte Derhan es ebenfalls, wenn er Hilfe wollte - aber wohl war ihm dabei nicht. Zu wenig schien die geplante Anklage damit zu tun zu haben, daß ein kleiner Junge von einem erwachsenen Mann mißbraucht worden war, grundlegende moralische Fragen verschwanden bei ihrem Aufbau hinter innenpolitischen und religiösen Themen.

Inzwischen brachten die Sklaven ein mit Speisen überladenes Tablett, außerdem zwei große, sehr flache Trinkschalen, dazu eine Kanne, in der eine streng und zugleich lieblich riechende rote Flüssigkeit schwappte.

"Nehmt auch einen Schluck von dem Oinos", lud Manord Havatim Derhan ein und ließ beide Schalen füllen. "Besiegeln wir damit, daß ich ab sofort als euer neuer Patron für euch sorgen werde, bis ihr euch in die Bürgerschaft eingekauft habt."

Das war also jenes teure Getränk aus dem Osten, von dem Derhan schon hatte reden hören. Neugierig aber doch zögernd führte er die Trinkschale wie der Alte mit zwei Händen an den Mund und nippte daran. Das Getränk erinnerte an den Dattelwein, der bei der Schur seiner Stirnlocke ausgeschenkt worden war, es war jedoch nicht ganz so süß, dafür wärmte es die Kehle und den Magen viel mehr, als Derhan es herunterschluckte.

Manord musterte Derhan über den Rand seiner eigenen Schale. "Erinnert euch an den Geschmack dieses Oinos. Ihr werdet ihn hier in Berresh nur selten bekommen." Dann trank er selbst mit sichtlichem Genuß.

Und Derhan nahm noch einen zweiten und einen dritten kleinen Schluck, dann gönnte er sich größere Schlucke der recht wohlschmeckenden Flüssigkeit, bis sich seiner ein unangenehmes Schwindelgefühl bemächtigte. Er setzte die noch halbvolle Schale ab.

Manord ließ sich indessen schon nachschenken. "Besucht mich morgen nachmittag. Ich wohne zur Zeit nahe der Alten Stadtmauer an der Ratsstraße, auf der Außenseite, in dem Haus, das ehedem Murhan Darashy gehörte, als er in Berreshs Diensten stand", erklärte er. "Ich werde bis dahin eine Anklageschrift verfaßt haben und mit euch die noch anstehenden Details besprechen." Dann führte er die frisch gefüllte Trinkschale wieder zum Mund, und Derhan machte es ihm nach, da das Schwindelgefühl wieder etwas abgeklungen war.

"Habt ihr den Städtezerstörer denn auch noch kennengelernt, wenn ihr seit Jahren die Kriegszüge der Stadt begleitet?" fragte Manord zwischen zwei Schlucken. "Ich denke, er war so etwas wie der letzte taribische Kriegsherr, auch wenn er nur als Söldner in den Diensten anderer Städte stand, soweit ich weiß. Aber seine Erfolge waren legendär, schon zu seinen Lebzeiten."

Derhan hatte das Gefühl, seine Sicht würde verschwimmen und er stellte die Trinkschale vorsichtig wieder ab. Es fiel ihm schwer, sich auf seine Erinnerungen zu konzentrieren und sie dann in Worte zu fassen, aber Murhan Darashy mit seiner sagenumwobenen Schlangenklinge, die doch nicht mehr als ein gewöhnliches Oshey-Schwert gewesen war, hatte er wirklich einmal gesehen. "Ich hatte gerade meine Studien begonnen, als ich ihn bei einer Heerschau sah. Einige Jahre später hieß es dann, er sei in Letrans Diensten vor Tetraos gefallen."

Manord nickte nachdenklich. "Ich war sein Patron in der Zeit, in der er hier lebte. Und ich mag den kargen Stil der Stämme, der sich in seinem Haus widerspiegelt. Auch er hatte nur einen Sohn, genau wie ihr. Ist es im Westen unüblich, mehrere Kinder zu haben? Wie konnten die taribischen Stämme die halbe Welt erobern mit dieser Haltung?"

Jedes Kind bei den Stämmen wußte, daß die Kriegsherren des Taribischen Reiches ihre Erfolge ihren unirdischen Fähigkeiten und nicht einer umfangreichen Nachkommenschaft zu verdanken hatten. Und trotzdem hatten die Götter ihren Niedergang nicht verhindert. Aber es gelang Derhan, von diesem Thema zu schweigen. "Ich kann nur für meine Frau und mich sprechen", sagte er statt dessen diplomatisch. "Uns war bisher kein weiteres Kind vergönnt. Vielleicht ging es dem Darashy ja ähnlich."

Manord brummelte irgend etwas, von dem Derhan nur "...und fünf Töchter, die mich ein Vermögen kosten", verstand. Dann hatte er seine Trinkschale erneut geleert, erhob sich mit Hilfe seines Stockes und verließ mit den Sklaven und dem gepolsterten Stuhl das Studienzimmer des Hohepriesters.

Derhan erhob sich ebenfalls und wurde von einer plötzlichen Verstärkung des Schwindels überrascht. Als er den Innenhof erreicht hatte, stützte ihn der Türwächter des Hohepriesters am Arm, um ihm aus dem Haus und auf die Prozessionsstraße zu helfen. Er wies ihm noch die richtige Richtung nach Hause, doch auf der steil abwärts führende Straße war er auf sich allein gestellt.

Der Abstieg von der Oberstadt stellte für Derhan eine Herausforderung dar, da er immer wieder Probleme mit seinem Gleichgewicht bekam und strauchelte. Wo es ging stützte er sich an den Hauswänden ab, bis die Straße so eben wurde, daß er nicht mehr das Gefühl hatte, den Halt zu brauchen. Doch da hatte er ein gutes Stück des Weges zur Alten Stadtmauer noch vor sich. Und sein Haus lag in den entfernteren Gebieten der Außenseite.

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Elisabeths Profilbild Elisabeth

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Kapitel: 2
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Kurzbeschreibung

Derhan erlebt die bisher schlimmsten Tage seines Lebens - wer es wagt, kann ihn dabei begleiten.